Hinter einem Holzhaus tief in den finnischen Wäldern steht die Südafrikanerin Amber Fillary dünn bekleidet im Schnee und zündet sich eine Zigarette an. Die anderen sollen davon am besten nichts mitkriegen. Es wirkt ein bisschen seltsam, wenn eine kleine, zierliche, schlanke Frau in den nächsten Tagen einen Weltrekord im Eistauchen aufstellen will und jetzt noch immer raucht und obendrein kaum schläft und dazu auch noch ständig viel zu viel Kaffee trinkt. Vielleicht käme einer auf die unfassbar dumme Idee, sie würde die ganze Sache nicht ernst nehmen.
Sie hat ja nicht einmal groß trainiert. Sie ist ja nicht einmal eine versierte Taucherin. Und dann sind da noch die ganzen anderen Dinge in ihrem Leben. Eigentlich kann sie es gar nicht schaffen, über 50 Meter weit unter einer geschlossenen Eisdecke zu tauchen, mit nur einem Atemzug, ohne Flossen und nur im Bikini.
„Ich bin nervös“, sagt Amber. „Ich muss meinen Kopf klar kriegen.“ Sie drückt die Kippe aus, blickt nach Osten.
Ein paar Schritte den Hang runter, gleich hinter den dünnen Fichten, liegt der Päijänne, der längste See Finnlands. Ende März ein steifgefrorenes Brett, über das sich die Spuren der Schneemobile ziehen.
Das Wasser unter dem Eis hat eine Temperatur von ein bis zwei Grad. Schon seine Füße in dieses Wasser zu setzen schmerzt. In dieses Wasser mit dem ganzen Körper hineinzugehen, kommt nach wenigen Sekunden einer Marter gleich. Das Herz stockt, die Kehle schnürt sich zu, der Kreislauf schreit vor Pein. In dieses Wasser jedoch durch ein kleines, mit einer Motorsäge ins Eis gefräste Loch zu steigen und anschließend in die dunklen Weiten des Sees abzutauchen, das muss sich anfühlen, als würde dich eine Stahlpresse in die Zange nehmen. Durch diese Stahlpresse musst du dann hindurch.
Amber sagt, sie versucht da unten an nichts zu denken. Denken ist nicht gut, es verbraucht nur Energie. Über ihr das Eis. Eine blaugraue Sphäre aus Kälte und Frost, die sich in diesen Momenten sehr wirklich und sehr buchstäblich über ihr Leben legt. Hochkommen geht nicht. Das geht erst wieder beim nächsten Loch in 25 Meter Entfernung. Und dann beim nächsten, noch einmal 25 Meter weiter.
Amber Fillary, 46 Jahre alt, will diese Schicht aus Frost überwinden, indem sie unter ihr hindurchtaucht. Niemand weiß so recht, wie sie das packen soll. Nicht einmal die anwesenden Freitaucher, von denen einige zu den besten der Szene gehören. Eine von ihnen, Nanna Kreutzmann, sagt: „Ich würde nicht mal vier, fünf Meter schaffen. Danach killt dich das Wasser.“
Es ist alles in allem keine ganz einfache Geschichte mit der Südafrikanerin namens Amber Fillary. Das mit dem Eis und dem See und dem Tauchen, das geht noch. Aber es gibt Kälte und Abgründe anderer Kategorien, und vielleicht hängt das alles zusammen.
„Es passiert im Kopf“, sagt Amber. Sie kann sehr warm lächeln. Auf Englisch sagt sie: „I gotta get in the right headspace.“ Sie sagt das Wort so dahin, Kopffreiheit. Dann verschiebt sich alles. Sehr traurig schauen und sehr ernst, das kann sie auch, von einer Sekunde auf die nächste. Die anderen Freediver, die vor Ort sind und von Ambers Vorhaben wissen, haben längst ihre eigenen Theorien. Einige glauben, dass sie da unten im See durch ihren eigenen Schmerz tauchen will.
In den nächsten Tagen erreichen noch mehr Freediver die einsamen Hütten am Päijänne-See. Sie wollen gemeinsam tauchen, ohne Atemflaschen, ohne großes Gerät. Sie tragen lediglich Flossen, Maske, einen Bleigurt und, in der Regel, einen Neoprenanzug. Ihre Anzüge kleben am Leib wie eine zweite Haut, sie sind warm und geschmeidig, und man kommt nur in sie hinein, wenn man sich vorher mit Spülmittel, Shampoo oder Kokosnussmilch einreibt.
Es gibt viele Disziplinen beim Apnoetauchen, wie dieser Sport auch heißt. Streckentauchen, Tieftauchen, mit oder ohne Gewicht. Tauchen im Meer, in Seen, in Pools. Einige tauchen mit Monoflossen in die Tiefe, andere lassen sich von Schlitten in den Abgrund reißen. Der Österreicher Herbert Nitsch schaffte es so auf 214 Meter Tiefe. Über vier Minuten war er unten im Meer, mit nur einem Atemzug. Beim Versuch, seinen eigenen Rekord zu brechen, kam er fast ums Leben. Ein Gehirn auf Sauerstoffentzug. Beim statischen Apnoe hielt jemand in einem Pool schon zwölf Minuten lang die Luft an, reglos an der Oberfläche treibend.
Rekorde sind die eine Sache. Die meisten Freitaucher sagen, das tiefe Luftholen und anschließende Abtauchen komme vielmehr einer Form der Meditation gleich. Dem Sinkflug in einen inneren Frieden. Der Schwerelosigkeit. Viele tauchen mit geschlossenen Augen.
Einige wenige wagen den Flug unters Eis, und wenn sie die Augen da unten öffnen, sehen sie sehr schöne Bilder. Zersplitterte Muster aus gebrochenem Licht, Strukturen und Flächen kristalliner Kälte. Und dann kann man das alles eben noch im Bikini machen. Nur in seiner eigenen, seiner echten Haut.
Am nächsten Morgen, einem Dienstag, schreitet Amber mit ihrem Hamburger Begleiter Tolga Taskin hinaus auf den gefrorenen See. Amber steckt barfuß in grünen Crocs, trägt eine Badekappe und hält ihre Schwimmbrille in der Hand. Tolga läuft mit einer Videokamera hinterher. Er will alles filmen, das Training, den Rekordversuch, die Emotionen. Tolga ist in diesen Tagen hier oben in Finnland so etwas wie Ambers bester Freund, ihr Coach. Er macht ihr Mut, gibt Tipps. Tolga, 29, war in Ägypten schon auf 80 Meter Tiefe. Er weiß, worum es hier geht.
Den Rekord im nahezu unbekleideten Freitauchen unter einer geschlossenen Eisdecke hält bei den Frauen seit vier Jahren Johanna Nordblad. Ihre Bestleistung liegt bei 50 Meter, und man muss das ein wenig einordnen, um zu verstehen. Nordblad, eine umtriebige Finnin mit braunen Haaren, die ihre Unterwasserausflüge gut vermarktet und perfekt verfilmt, nahm schon bei mehreren Weltmeisterschaften im Freediving teil. In Serbien tauchte sie mit Flossen über 190 Meter weit, das entspricht fast der Länge von vier Olympiabecken. Danach trainierte sie das finnische Nationalteam der Männer im Freitauchen.
Nordblad hatte mal einen Fahrradunfall, eines ihrer Beine stand danach auf dem Spiel. Ein völlig verdrehter Knochen, die Wunde blieb lange offen, der Arzt verordnete ihr eine Kaltwassertherapie gegen die einsetzende Nekrose. Darum stieg sie eines Tages in den eiskalten See vor ihrer Haustür oben in den finnischen Wäldern und begann zu tauchen. Erst mit, dann ohne Neopren. Irgendwann bohrte sie zwei Löcher ins Eis und tauchte den Rekord. Im Badeanzug, ohne Flossen. Ihr Bein überlebte.
Vorhin, neben dem Holzhaus mit der Sauna, hatte sich Amber noch eine Zigarette angesteckt. Wie ein Geist zog der Rauch durch den dünnen Schnee, der fiel. Ihre Tabletten hat sie heute schon genommen. Damit der Kopf klar ist, der Abgrund in ihr selbst irgendwie überwindbar. Sie sagte, sie hätte jetzt schon länger nicht mehr getrunken. Na gut, neulich wieder ein bisschen. Vielleicht mal wieder ein bisschen zu viel. Aber sie würde diese 50 Meter schaffen. Auch die 51, vielleicht sogar die 60.
Tolga, der nebenan auf der Terrasse stand, sagte, sie hätte das Zeug dazu. „Amber“, sagte er, „ist eine Frau, die mit dem Kopf durch die Wand geht, wenn es nötig ist.“
Sie steht jetzt ganz nah vor dem kleinen dreieckigen Loch da draußen auf dem Eis, die Stelle ist etwa 50 Meter vom Ufer entfernt. Das Wasser im Loch hebt sich, senkt sich. Walfarben schwappt es in der Öffnung, als würde der See atmen. Zwei Sicherungstaucher sind bereits im Wasser, in sieben Millimeter dicken Neoprenanzügen, zudem wird Amber an einem Sicherungsseil tauchen. Sollte sie das Bewusstsein verlieren, der Kreislauf kollabieren oder das Herz gefrieren, würden sie Amber so schnell es geht zum nächsten Loch ziehen.
Sie nimmt ihren Kopf aus der Kapuze, setzt die Schwimmbrille auf, legt ihren Umhang ab. Ihr Bikini leuchtet in den Farben Südafrikas. So steht sie da im Frost. Barfuß, sehnig, kaum ein Gramm Fett. Sie scheint ruhig. Schlüpft ins Wasser, verzieht keine Miene. Hält sich an der Kante des Lochs fest, atmet ein, atmet aus, atmet wieder ein, gar nicht mal so tief, hält dann die Luft an, geht unter und taucht ab, und dann verschwindet unter der Eisdecke ihre Badekappe. Ein blauer Fleck, der sich langsam auflöst.
Sie ist jetzt weg. Vier, fünf Meter unter dem Eis. Stahlpresse. Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt sie zum ersten Loch, 25 Meter, dort wird sie kurz sichtbar, wendet unter Wasser. Wenden kostet enorm viel Energie, sie muss die gleiche Strecke nun wieder zurücktauchen, im bunten Bikini, und hoffentlich denkt sie da unten an nichts, auch nicht an die Messer und Flaschen der Sicherungstaucher. Tolga rennt oben übers Eis, er will parat sein, filmt, positioniert sich am Einstiegsloch, wo sie irgendwann wieder ankommen müsste.
Noch eine kleine Weile. Dann erscheint sie im Loch. Es hat aufgehört zu schneien. Amber taucht auf, sagt nichts, bleibt noch etwas im Wasser. Ganz ruhig, ganz leise. Zieht sich aufs Eis, klettert raus, hängt sich den Umhang um.
Die 50 Meter hat sie schon beim ersten Training geknackt. Wer beim Streckentauchen einmal im offenen Wasser gewendet hat, weiß, dass da keine Beckenwand ist, an der man sich abstoßen kann. Der weiß, dass es Kraft kostet und man mindestens vier, fünf Meter dazurechnen kann. Aber natürlich zählt das nicht, um in das Guinness-Buch der Rekorde zu tauchen. Dafür muss es eine Strecke am Stück sein, offiziell vermessen. Es müssen registrierte Zeugen vor Ort sein, Kameras müssen das Ganze auch unter Wasser filmen, und der Rekordversuch hat an einem festgelegten Tag zu funktionieren. Muss, muss, muss. Es hat wenig mit Freediving zu tun.
Amber zittert nicht einmal. Sie lächelt, sie hat sehr gute Zähne. Tolga hält die Kamera drauf, aber dann legt er sie weg und umarmt Amber.
„Du hast es geschafft.“
„Es war nur Training.“
„War es schön da unten?“
„Ja, es ist sehr schön da unten.“
Der Päijänne-See liegt unter der finnischen Sonne wie eine Halluzination. Wie ein unbeschriebenes, schneeweißes Blatt Papier.
Am Abend essen die Freitaucher gemeinsam in der Hütte, sie schauen Filme, trinken Wasser. Null Bier, null Wein. Amber sitzt in der Ecke. Übermorgen soll der offizielle Rekordversuch steigen. Sie ist nervös. Sie weiß nicht, wie sie drauf sein wird, sie weiß das ja eigentlich nie. Es kann alles jederzeit kommen. Aber dann kommt es wie ein Sog. Und dann reißt es dich ganz runter, gefühlt bis auf den Grund des Marianengrabens. Da musst du dann erst mal wieder hochkommen.
Amber Fillary wurde 1972 in Kapstadt geboren. Schon als Kind ging sie viel ins Wasser, in die kleinen Lagunen von St. James Beach nahe Muizenberg. Sie liebte das, sie und ihre beste Schulfreundin. Den Strand, die Sonne, das Wasser. Dann zog die Freundin eines Tages einfach weg. Amber erlitt einen Nervenzusammenbruch, den ersten ihres Lebens, er kam wie aus dem Nichts. In der Junior Highschool schwamm sie weiter, erste Wettkämpfe, erhielt Abzeichen, Medaillen. Sie war jetzt 15, und dann wurde es in ihrer Familie „etwas chaotisch“, wie sie es heute, über 30 Jahre später, ausdrückt. Die Mutter brachte noch ein Baby zur Welt, der Vater machte sich vom Acker.
Über das Leben der jungen Amber legte sich das erste Mal eine Eisdecke, von der sie nichts ahnte. Sie aß nicht mehr, magerte ab, dann aß sie wieder und erbrach alles. So ging das weiter. Das Leben gefror, wurde kalt, wurde dunkel. Anorexie, Bulimie, diese Worte hörte sie nun. Das Wort Depression aber hatte noch niemand in den Mund genommen. Sie war ein schnell und gut schwimmender Teenager, doch mit 17 versuchte sie zwei Mal, sich das Leben zu nehmen. Sie schnitt sich die Venen auf, kippte sich eine Überdosis Tabletten in den Hals.
Es ist wie gesagt keine einfache Geschichte mit Amber Fillary. Aber wie soll es das auch sein, wenn du schon im Teenageralter am Abgrund einer ernsthaften Depression stehst?
Bald darauf, an der Uni, sie studiert Kunst, beginnt sie zu trinken. Sie wechselt das Fach, will Schmuckdesignerin werden, weil im Leben eines Depressiven nichts stabil ist. Sie isst nicht, schrumpft zu einem Strich, landet das erste Mal in einem Rehabilitationszentrum. Sie trinkt weiter, bekommt mit 21 Jahren Tabletten gegen den Alkoholismus verschrieben. So geht das weiter, ihr Leben ein „blur“, wie sie sagt. Ein Nebel.
Eine Flasche Wein geht runter wie nichts. Dann die nächste. Hoch, runter. So taucht sie durchs Leben. Mitte 22 wacht sie eines Morgens auf. Geschlossene Psychiatrie. Keine Gabeln, keine Messer. Sie zieht später nach England, studieren, feiern, jobben, abstürzen, aufstehen. Sie geht zu den Anonymen Alkoholikern. Einmal ist in einer der Runden Eric Clapton mit dabei; sein vier Jahre alter Sohn Conor war aus dem Fenster eines New Yorker Apartments gestürzt.
Amber kehrt zurück nach Südafrika, zieht hin und her, ist mal oben, mal unten. Sie arbeitet als Bademeisterin, als Nanny, schwimmt, studiert, bricht ab. Mal wieder in der Reha, lernt sie ihren späteren Mann kennen. Der trinkt auch, sie heiraten. Bis auch das entgleist und er versucht, sie zu erwürgen. Er wird sich später zu Tode trinken. Hoch, runter, hoch. Runter. So geht das über all die Jahre, weil dich, wenn es wirklich schlimm ist, der Strudel nicht mehr loslässt.
Das Fazit von Amber Fillarys Leben, heute: Mehr als zwölf Jahre war sie clean, bis 41. Fast drei Jahre hat sie in Entzugsanstalten und Rehabilitationszentren verbracht. Zwischendurch startete sie bei Triathlons, schwamm stets weiter, hielt in einem Pool sechs Minuten die Luft an und stellte drei südafrikanische Rekorde im Freitauchen auf. Sie sagt: Redet über Depressionen, schweigt sie nicht tot. Sie sagt: Lass dir von Depression und Sucht nicht deine Träume nehmen. Wenn es geht, malt sie. Blaue Flächen, Rinnsale, Analogien des Wassers. Ein Leben zwischen Trunksucht und Erbrechen, zwischen Absturz und Höhenflug. Amber Fillary weiß, was Kraft bedeutet.
Abends sitzt sie oben in Finnland noch auf der Couch. Sie schläft meist spät, kann schlecht schlafen, steht früh wieder auf. Dann fängt sie an, Kaffee zu trinken. Es ist ein zittriges Leben. Ein Gang über Pergamentpapier.
Morgen soll der Rekordversuch steigen. Amber, auf der Couch, sagt: „Water is my happy place.“ Wenn sie im Wasser ist, geht es ihr gut. So war das schon immer. Sie lächelt. Ein weißes Lächeln. Die Bulimie, die Säure des ständigen Kotzens, hat sie früh ihre gesamten Zähne gekostet. Da sah sie aus wie eine Vogelscheuche. Das wenige Geld ihres verstorbenen Mannes reichte gerade, um alles neu zu machen. „Mein Mund ist das teuerste in meinem Leben“, sagt Amber. Dann geht sie schlafen.
Ein schneidend kalter Wind faucht am nächsten Tag über den See. Sechs Löcher haben sie ins Eis gebohrt, Flaschentaucher die Strecke unter Wasser mit Leinen und Orientierungsmarken abgesichert. Es sind viele Leute zugegen. Überall Handys, Kameras, Filmcrews.
Amber wartet in der Hütte am Waldrand. Sie ist schon im Bikini. „Ich muss meinen Kopf frei kriegen.“ Im letzten Jahr hatte sich noch mal einiges addiert. Ein Zusammenbruch im Herbst, ein Psychiater, der ihr neue Pillen verschrieb. Eine Lungenentzündung, ein gebrochenes Fußgelenk. Kurz vor Weihnachten 2018 hatte sie das erste Mal wieder über Selbstmord nachgedacht.
Dann geht am Päijänne-See nördlich von Helsinki alles sehr schnell. Sie kommt aus der Tür und marschiert runter aufs Eis, nimmt den Umhang ab, setzt die Schwimmbrille auf, kniet kurz vor dem Loch. Sie taucht ein und schließlich ab – und verpasst ihre Chance auf den Eintrag ins Buch der Rekorde.
Bei 40 Metern kommt Amber hoch. Ein Seil hat sich verheddert, die Kamera, die man bei solch offiziellen Krönungen hinter sich her ziehen muss, war im Weg und bremste. Der Karabiner hing schräg, ratschte am Seil entlang. Es ist kein guter Tag. Es ist ein Scheißtag. Ein Tag, der mit der Idee des Freediving wenig zu tun hat und schon gar nichts mit der Geschichte der Amber Fillary.
Auf einen zweiten Versuch verzichtet sie. Da sind die Teufel im Kopf und die fragilen Pfade, die hinabführen in das, was man einen kurzen inneren Frieden nennen könnte. Auch beim zweiten Trainingstauchgang hatte sie gestern die 50 Meter geschafft. Mit Wende, ohne Wand. Jetzt will sie nicht mehr. Das große Buch der Rekorde und die Jagd danach hat mit Schwerelosigkeit wenig zu tun. Freitauchen bedeutet mehr ein Loslassen als ein Grapschen.
Nachmittags geht Amber noch mal auf den See, aufs Eis. Es sind kaum Leute dort, ihr bunter Bikini leuchtet wie ein Fetzen Bonbonpapier auf einer schneeweißen Tischdecke. Nur eine andere Freediverin, in Neopren, ist mit dabei. Die beiden tauchen ab durch das Loch. Drehen sich, schwimmen über Kopf, spielen. Die oben Zurückbleibenden können erst später auf dem Filmmaterial erahnen, wie es da unten ist. Ein mucksmäuschenstiller Weltraum, erfüllt von blaugrauem Licht. Schwebende Luftblasen. Risse, Kreise, Linien, Fragmente. Die hypnotischen Bilder des Eises.
Amber dreht sich um, segelt eine Weile kopfüber unter der Eisdecke dahin. Ein Fisch in der Stahlpresse.
Marc Bielefeld, 2019
Ein alter Mann aus Sevilla erzählte mir einmal, dass er den besten Ort auf der Erde kennen würde, um ein gutes Buch zu lesen. Der Ort läge mehrere tausend Kilometer von Sevilla entfernt, und er würde diesen Ort niemals verraten. Aber dort, sagte er, würde alles stimmen. Der Ort sei eine schlichte Bar auf den Felsen mit Blick aufs Meer, und weder die Bar noch die Kellner noch das Licht würden dich jemals betrügen. Die Preise für das Essen und die Drinks seien billig, aber das, was man braucht, um ein anständiges Buch zu lesen, sei unbezahlbar, und genau dort würde man es finden.
Einmal im Jahr würde er zu diesem Ort aufbrechen, mit einigen Büchern im Gepäck, und dann würde er einen Monat bleiben und jeden Tag in die Bar gehen, um dort zu essen, zu trinken und zu lesen. Er würde niemals nach sechs Uhr am Abend lesen, sagte er, auch würde er niemals zu schnell und zu viel lesen. All das hielt er für sinnlos.
Der Mann hatte eine tiefe Stimme, er sprach einfach und ohne Gehabe, und seine Worte klangen mit keiner Silbe danach, überzeugen oder belehren zu wollen. Er sprach ruhig und gelassen, und seine Augen sahen mich dabei an und lauschten.
Was so ein Ort bräuchte, um zum Lesen der beste Ort auf der Erde zu sein? Das fragte ich ihn.
Der Mann sagte daraufhin nichts und wartete und blickte aus dem Fenster. Nach einer Weile sagte er, dass es ein Ort sei, wo der Wind durch die offene Bar ging und durch dein Hemd strich und es zum Leben brachte. Von den Felsen würde der Blick aufs Meer fallen, das an guten Tagen in einem tiefen, scharfen Blau vor dir lag, und fast immer würde das Meer die Schaumkronen eines ordentlichen Winds tragen. Ein regloses Meer, ein Meer ohne Schaumkronen, sagte der Mann, widere ihn an.
In der Bar hingen einfache Bilder an den Wänden, gemalt von einigen Gästen, und der Tresen sei poliert und die Tische und Stühle seien aus Holz, viel mehr nicht. Die Felsen, auf denen die Bar stehe, würden den Ort am meisten ausmachen, die Felsen und wahrscheinlich das Meer. Die Felsen seien karg und von Rissen durchzogen, weil die Sonne in den Sommern sehr heiß werden konnte, und auf den Felsen würde nur hier und da etwas Salzkraut wachsen.
Er könne es nicht genau sagen, aber der Ort würde sich vor allem durch das auszeichnen, was nicht war, so dass das, was war, eine Klarheit erlangte und einen nicht ablenkte, und alles andere sei unwichtig.
Über Bücher wollte der Mann nicht reden. Er sagte nur, dass die Bücher nicht so wichtig seien und nur zwanzig bis dreißig Prozent ausmachen würden. Der Rest müsse in deinem Kopf und in deinen Eingeweiden stattfinden. Aber natürlich müssten diese zwanzig bis dreißig Prozent in den Büchern stimmen, und sie müssten in etwa so stimmen wie die Haut eines Hais.
Die restlichen siebzig bis achtzig Prozent seien alles in allem eine ziemlich heikle Angelegenheit, sagte schließlich der Mann, und er wand sich etwas, und vielleicht habe dieser Anteil damit zu tun, was man gesehen, erlebt und gespürt habe. Diese verbleibenden siebzig bis achtzig Prozent aber hätten auch mit Dingen zu tun, von denen wir nie etwas begreifen würden.
Dann brach der Mann das Thema ab und sagte, er wolle nicht weiter darüber reden. Nada más. Zero. Nothing. Ob ich das kapiert hätte?
Der Mann, der mir das erzählte, war ein Spanier und schon alt, und sein Gesicht und seine Hände trugen Spuren von harmlosem Sonnenkrebs. Am nächsten Morgen waren wir zum Frühstück verabredet, und ich hätte vielleicht noch gewagt, ihm die Frage zu stellen, ob der beste Ort der Welt zum Lesen, diese Bar am Meer, ja, ob dieser Ort in Afrika, Asien, Australien, Europa oder Amerika lag.
Doch der Mann, der kein berühmter, aber ein sorgfältiger und in der Gegend von Sevilla bekannter Schriftsteller war, kam nicht zu unserem Frühstück, denn er war in der Nacht gestorben. Bei einem Sturz auf der Treppe zu seiner Wohnung hatte er sich das Genick doppelt gebrochen, so stand es zwei Tage später in der Lokalzeitung, in Form einer kleinen Notiz.
Geblieben von Sevilla sind in meinem Kopf nicht die Stierkämpfe, nicht die von Bougainvillea umrankten Plazas, nicht die Bodegas, nicht der Sherry und auch nicht der Flamenco, der eh für die Touristen war. Geblieben von Sevilla, auf sonderbare Weise, sind in meinem Kopf der alte Mann und die einfache Bar auf den Felsen, nur mit dem Licht, dem Wind und dem Meer, irgendwo da draußen in dieser Welt.
Wo immer ich bin, halte ich Ausschau nach diesem Ort. Ich habe ihn nie gefunden.
Herr Huan Trang sitzt an diesem Novembernachmittag am Strand von Sao Beach, er sitzt auf einer aufblasbaren Wasserrutsche aus Plastik und wartet darauf, dass auf seiner Insel Phu quoc die Saison beginnt. In den letzten Tagen schickte der Himmel noch schweren Regen, aber nun kündigt sich die Trockenzeit an. Nun wird bald wieder die Sonne scheinen, wird das Meer blau leuchten, werden die Chinesen kommen, die Russen, die Europäer und wird die vietnamesische Ferieninsel alles versuchen, um ihrem Endziel eine Phase näher zu kommen. Zwischen die beiden Gottfiguren in seinem kleinen Schrein hat Herr Trang ein Bündel Dollarnoten geschoben.
Er geht die paar Meter hoch zu seiner Beachbar, die er neben seiner 200 Quadratmeter großen, bei schönem Wetter im Meer dümpelnden Plastikspielwiese ebenfalls betreibt. Er verkauft in der Bretterbude Eiscafé, Cola, Fanta, vietnamesischen Reiswein. In einem Bassin mit trübem Wasser liegen Garnelen, Muscheln und kleine Flusswelse, die velleicht noch leben; auf Wunsch gibt es sie gebraten.
Neben der Bude, hinter der Bude liegt Müll. Zerfetzte Palmwedel, Kanister. Zwei Russinen laufen barfuß durch den weißen Sand, laufen vorbei an Sonnenschirmen und umgekippten Stühlen. Es ist heiß und schwül. Hinten aus dem Dschungel erheben sich hellbraune Wolken und das Dröhnen einer Großbaustelle. Die Tochter von Herrn Huan Trang schiebt sich die Staubmaske wieder vors Gesicht, aber über ihrem Kopf, an einer kleinen, rostigen, schiefen Stange weht sie noch, die Flagge der sozialistischen Republik Vietnam, roter Fonds mit gelbem Stern.
Herr Huan Trang sitzt, wie soll man sagen, zwischen den Zeiten. Sitzt mit seiner kleinen Strandbar und seinem bunten Wasserpark irgendwo zwischen einer alten und der neuen Version der Insel Phu quoc. Hockt mit seinem Geschäft inmitten einer sich aufblasenden asiatischen Utopie, die bald keine mehr sein wird. Die sich erheben wird wie der Staub aus dem Grün, wie die Drachen aus den Träumen.
Herr Trang stochert in seinem Eiscafé. Sein goldfarbenes iPhone bimmelt, seine Füße spielen mit den Latschen. Er weiß es noch nicht, vielleicht will er es auch nicht wissen, aber bald, in den nächsten zwei, drei Jahren, wird er davongespült werden wie ein Körnchen von einem Tsunami.
Bis dahin aber singt Herr Trang seine Hoffnung hinaus aufs Meer. Er breitet die Arme aus, sagt auf Englisch: »Beautiful ocean, many tourists, very beautiful.«
Vor zehn Jahren schlief die Insel Phu quoc noch. Viel Busch, viel Grün, schmale, einsame Strände. Die Fischer fuhren auf ihren Sampans, in den Dörfern liefen Hühner. Dann kamen eines Tages die ersten Traveller, sie kamen aus Thailand, weil man dort schneller mit der Zeit ging, weil es dort längst immer voller wurde. Die Traveller fanden eine ferne Insel vor, die noch halbwegs ihren Gelüsten entsprach. Leer und billig, fast nur Einheimische. Warmes Meer, Garküchen. Die dreieckigen Chinesenhüte, die auf rostigen Drahteseln neben den Reisfeldern fuhren. All die friedlichen Bilder, die der Klang dieses Worts Vietnam noch versprach.
Vor sechs Jahren tauchten bereits mehr Reisende auf, Winterflüchtlinge, die Geld hatten. Kleine Gästehäuser entstanden, Hotels, Restaurants, und irgendwann muss irgendwer den ersten Cheeseburger auf der Insel gebraten haben. Vor vier, fünf Jahren wuchs der erste Palast. Der alte Flughafen wurde stillgelegt, der neue, größere und weiter im Süden gelegene eröffnet. Vor drei Jahren rochen die ersten großen Konzerne die Luft der Insel. Das Internet hatte die Nachricht rasend schnell verbreitet, die Posts, die bunten Bilder, die Seiten der Reiseberichte.
Noch aber kam der seltsame Wandel auf Vietmans einziger tropischen Insel im Meer eher verhaltenen Startvorbereitungen gleich. Lediglich die Vision, etwas Großes aufs Reißbrett zu stellen, etwas Enormes. Doch vor einem Jahr war es vorbei mit der Prokrastination. Die sozialistische Regierung Vietnams schraubte an den Resolutionen Nummer 19 und 35, schuf paradiesische Bedingungen für Investoren; die Berichte von Weltbank und Europäischer Handelskammer nahmen Notiz, registrierten die stabile politische Lage im Land. Sie erhöhten die Punktzahl, die ein pontentiell prosperierendes Wirtschaftreich ausweist, sie erhöhten sie von 77 auf 86. Der „Business Climate Index“, der globale Indikator dafür, wo auf dieser Erde noch Geld zu machen ist, schnellte nach oben.
Und nun fiel der Startschuss. Zu vernehmen in ganz Vietnam, im Besonderen jedoch auf jener Insel im Golf von Thailand, wo die schönsten Sonnenuntergänge des Landes zu bewundern sind, wo die Strände liegen und die Verheißung nach einem Paradies noch würde funktionieren können.
Dann ging es los. Alsbald kamen die Planierraupen und die Milliarden. Der Drache, der nun Appetit auf Insel hatte.
Die kleine Insel wandelt sich mit atemraubender Geschwindigkeit. Geht nicht gibt’s nicht. Mit asiatischem Speed und asiatischer Begeisterung mutiert ein einstiges Palmenparadies zum Ferienpark mit Rutschen, Resorts und resolutem Geschäftsmodell. Milliarden werden investiert, Millionen Touristen erwartet. Die Bühne ist das Meer
An diesem Dezembertag scheint endlich die Sonne über Phu quoc. Im Norden der Insel, auf Höhe Bai Dài Beach, fahren mehrere Reisebusse vor dem »Vinpearl Land« vor. Der Vergüngungspark ist noch nicht ganz fertig gestellt, aber die Besucher dürfen schon hinein, dürfen
20 Dollar bezahlen, um im Waterpark die 20 Meter Wasserrutschen hinunter zu flitzen, um im Riesenrad zu fahren, in den Karussels, Achterbahnen und hydraulischen Katapulten. Sie haben im »Vinpearl Land« ein altes europäisches Schloss nachgebaut, hinter Glas sollen bald Wassernixen schwimmen, in einem Amphitheater buntbestrahlte Fontänen zu Mozart tanzen. Aus den Lautsprechern singen schon jetzt Phil Collins und Frank Sinatra, die ersten Geschäfte haben geöffnet, sie verkaufen zumeist in Rosa gehaltenes Babyspielzeug; an den Buden von »Yummy Land« gibt es Softeis.
Unten am Meer haben die ersten beiden Hotels der vietnamesischen Urlaubsfabrik namens »Vinpearl« eröffnet. Bauten wie aus weißem Marmor, Pools so groß wie Seen. Glas blitzt, frisch gepflanzte Palmen stehen in Reih und Glied. Im Norden und Süden, ebenfalls am Saum des Meeres, dehnen sich bereits die nächsten Großbaustellen. Bulldozer klettern dort durch Krater ausgehobener Erde, Kräne stehen auf den werdenen Fundamenten für Villenparks, Hotels und zehnstöckige Bettenburgen. Das »Grand World« der LDG Group ist hier am Entstehen, zwei halbmondartig geschwungene Komplexe mit 4600 Betten, umrahmt von einer in wenigen Monaten aus der Erde getriebenen Welt aus Palmen, Pools und aufgeschütteten Lagunen.
Unweit lassen sich, in elektrisch betriebenen Kleinbussen, die Touristen durch den ersten Safaripark der Insel fahren. Aus Afrika importierte Zebras laufen durchs Grün, Gnus, Giraffen; bald sollen die ersten Elefanten eintreffen. Ebenfalls unweit, vernebelt von Dieselwolken und hustenden Trucks, liegen die mobilen Barracken der Bautruppen und Billiglöhner, stehen die fliegenumschwirrten Fisch- und Fleischstände der Wanderarbeiter und türmen sich die Müllhalden von Cua Can. Berge aus Unrat und Gestank, zwischen deren Ausläufern Frauen stapfen, Männer sortieren und Kinder leben.
Doch sind es weniger die Ausmaße, über welche die Besucher dieser Insel derzeit begeistert staunen. Es ist die Geschwindigkeit. Die pure Geschwindigkeit, mit der Zehntausendschaften vietnamesischer Arbeitsbienen mitten im Golf von Thailand diese asiatische Ferienkirmes in die Welt pressen. In vier, fünf Jahren, manche sprechen von zwei Jahren, wollen sie zum Finale kommen. Dann soll die Metamorphose vollzogen und das vietnamesische Vegas vollbracht sein.
Zahlen verraten, wie der Drache denkt, was er vor hat. Kamen vor zehn, zwölf Jahren gerade mal ein paar hundert Rucksackreisende auf die Insel, fluteten 2014 schon 568.000 Touristen die Insel; ab 2020 rechnen die Investoren mit über zwei Millionen Besuchern im Jahr.
Eigens für Phu quoc haben die Behörden die Einreise erleichtert. Wer die Insel direkt anfliegt oder im Transit kommt, darf 30 Tage bleiben, ohne Visum. Die Vietnamesen, die nun endlich auch zu den Aufsteigern in Fernost zählen, fackeln nicht lange. Ihre Insel im lauwarmen Meer pusten sie zu einem gigantischen Erholungszoo hoch: In über 200 touristische Projekte fließen insgesamt acht Milliarden Dollar an Investitionen. Vor allem die Vietnamesen selbst wollen ihre fantastische, dem stickigen Festland vorlagerte Insel einmal sehen. Doch kommen zunehmend auch Russen, Chinesen, Europäer. Schwedische Chartermaschinen fliegen Phu quoc erstmals direkt aus Stockholm an.
Nach der Landung betreten die Passagiere derzeit eine asthmatische Baustelle unter Palmen, die sich von An Thói im Süden bis nach Bai Thom im Norden fast flächendeckend über die Insel zieht. An fast jeder freien Stelle am Meer können sie sehen, wie Hotels, Resorts oder Golfplätze aus dem Boden sprießen.
Die Besucher wandeln über die wuselnden alten Märkte der Hauptstadt Duong Dong, wo die Verkäuferinnen Gewürze, Knollen und Meeresfrüchte feilbieten. Tigermuscheln dümpeln in den Schalen, bunte Krebse, Rochen und aufgeschnitte Haihälften liegen in der Sonne. An den Stränden der Westküste, in kleinen und noch überschaubaren Resorts am Meer, leuchten abends die Sundowner und wummern nachts die Bässe in den anliegenden Bars.
Schwer und steil sinkt die Sonne am Abend hinter der kreischenden Stadt ins Meer. Am Hafen liegen die in sich verkeilten Flotten der Fischerboote und Dschunken, die ihren Fang löschen und bald am schmatzenden Fluss festmachen. Herscharen von Mopeds fräsen sich durch die Straßen, Garküchen dampfen, Lokale blinken. Unten am Dong River, unweit der Brücke in die Altstadt, treffen sich in einer Bar am Night Market allabendlich die französischen Expatriaten, die seit vielen Jahren auf der Insel leben und ihre Geschäfte betreiben. Die Zeiten des kolonialen Indochinas sind lange vorüber, aber im »Saigon Hub« fließt noch immer guter Weißwein und landen Jaboksmuscheln als Amuse-gueule auf den Tellern. Ventilatoren schaufeln die schwüle Luft durch die offene Bar, und an diesem Abend sitzen sie wieder zusammen am Tresen, Claudiot, Fabiot, Charles, Michel und die anderen.
Sie erzählen von den Grundstückspreisen, die explodiert sind. Von Quadratmeterpreisen, die sich in den letzten zehn Jahren verhundertfacht hätten. Sie erzählen von den Highways, vierspurigen Trassen, die bald von Nord nach Süd durch den Busch führen, erbaut auf Fundamenten aus Müll. »Die Insel, die wir einst vorfanden, wird bald nicht mehr existieren«, sagt Claudiot, der Patron des Lokals. »In zwei, drei Jahren ist sie tot.«
Aus alt wird neu, aus Baugruben wachsen Luxushotels, aus einem sozialistischen Indochina wird das Paradies des dritten Milleniums in die Realität getrieben. East goes West. Koste es, was es wolle
Rafael, ein Franzose, der seit sieben Jahren auf der Insel lebt, schiebt sich die Sonnebrille in die dunklen Haare. »Ils font n’importe quoi«, sagt er auf Französisch, und die Kippe wackelt zwischen seinen Lippen. »Sie machen, was sie wollen, und sie machen es schnell.« Er meint damit das Casino, das im Norden entsteht. Den großen Hafen für die Kreuzfahrtschiffe, der bald fertig ist. Er meint Resorts wie das »Emerald Bay«, das derzeit im Süden aus der Erde gewuchtet wird. Eine von Mauern abgeschottete, zigtausende Quadratmeter große Erholungsoase, zu der schon bald nagelneue Palmenalleen führen werden und über deren Portal schon jetzt zwei goldene Löwen thronen.
Rafael nimmt einen tiefen Schluck aus der schwitzenden Bierflasche, draußen gleitet eine Fledermaus durch die klebrige Nacht.
Und er meint den »Wahnsinn im Süden«, von dem jetzt alle sprechen. Südlich von An Thoi errichten vietnamesische und österreichische Bauherren die »Hòn Thơm Phú Quốc Ropeway«, eine der mächtigsten und längsten Seilbahnanlagen der Welt. Die ersten vier Pylonen stehen bereits, und sie erheben sich wie monströse Raketen aus dem Meer: 160 Meter hohe Betonpfeiler, an denen demnächst 70 Gondeln hängen, in denen 10.000 Personen pro Stunde in schwindelerregender Höhe acht Kilometer weit über das tropische Meer getragen werden.
Schon im Frühjahr 2017 soll die Anlage fertig sein. Eine babylonische Konstruktion hoch über den Korallen, zwischen denen schon lange keine Fische mehr schwimmen. Der Franzose Rafael nimmt sein Bier, klopft mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn.
Doch ist dies nur seine Sicht der Dinge. Die eines fernen Europäers, die eines Fremden. Unten auf dem Night Market indes, während einer PR-Veranstaltung in Sachen Tourismus, tanzen die Vietnamesen freudestrahlend in die Zukunft. Angestachelt von sechs Cheerleadern in schwarzen Hotpants, rotgeschminkte Lippen und gelbe Plastikblumen durch die Luft wirbelnd.
Marc Bielefeld
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